Das nach Madame Bovary von Jules de Gaultier so benannte Phänomen des Bovarysme bezeichnet bekanntermaßen die nur den Menschen eigene Qualität, sich anders wahrzunehmen als sie sind, die unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Imagination und Realität, die nicht zwingend, aber doch bei zahlreichen Protagonistinnen der europäischen und der lateinamerikanischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts tödliche Konsequenzen nach sich zieht. Während der Bovarysme theoretisch auch die männlichen Protagonisten dieser Romane affizieren könnte, für diese aber, und dieses gilt insbesondere für den Typus des pseudoromantischen Liebhabers, meist ohne Folgen bleibt, verlieren die Protagonistinnen auf ihrer vergeblichen Suche nach dem Glück den Ehemann, die Kinder, die Gesundheit oder das Leben. Das Scheitern der Emma Bovary und anderer literarischer Heldinnen, die Fritz Rudolf Fries als “ein(en) Reigen trauriger Schwestern” bezeichnete, ist bereits mehrfach vergleichend betrachtet worden; nicht näher ist man bisher jedoch der Frage nachgegangen, warum einerseits fast ausschließlich die Protagonistinnen und nicht die Protagonisten vom Bovarysme im negativen Sinn betroffen sind und warum es ihnen andererseits unmöglich ist, sich durch eine Ent-Täuschung von ihren Illusionen zu Gunsten eines vitalen Lebensprinzips zu verabschieden. Unter Zuhilfenahme der Kriterien weiblicher Sozialisation im 19. Jahrhundert und des Begriffs des Améry’schen “Individualsystems” soll – im Anschluss an eine Analyse des Bedeutungspotentials der Spiegel- und Verstärkungsfunktion der männlichen für die weiblichen Protagonisten – versucht werden, eine Antwort auf diese Frage zu finden
DOI: | https://doi.org/10.37307/j.1866-5381.2006.01.05 |
Lizenz: | ESV-Lizenz |
ISSN: | 1866-5381 |
Ausgabe / Jahr: | 1 / 2006 |
Veröffentlicht: | 2006-04-01 |
Seiten 44 - 57
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